Nächste Hilfe: Bahnhofsmissionen

Es ist 19:10 Uhr. Ich stehe mit einer blauen Weste bekleidet an Gleis 21 und warte auf den ankommenden Zug. Langsam rollt der ICE aus Hamburg ein. Ein letztes Mal blicke ich prüfend auf den Zettel, auf dem ich mir alle wichtigen Daten notiert habe. Meine Aufgabe: einem älteren Herrn beim Umstieg behilflich zu sein. Nach kurzem Suchen habe ich ihn gefunden, und schon machen wir uns gemeinsam auf den Weg zum Flügelbahnhof. Nachdem ich den Herrn zu seinem Anschlusszug gebracht habe, geht es für mich zurück zu Gleis 11. Vor der Tür der dortigen Bahnhofsmission hat sich bereits eine Schlange gebildet. Ich grüße die Wartenden und dränge mich an der Schlange vorbei hinein in die Bahnhofsmission, wo ich zurzeit mein Sozialpraktikum absolviere.
Die Bahnhofsmission München darf bereits auf eine lange Tradition zurückblicken. Ihre Anfänge gehen sogar bis in die 1890er Jahre zurück, wo sie primär dazu diente, junge Frauen und Mädchen, die während der Industrialisierung nach München kamen, um nach Arbeit zu suchen, von den Zügen abzuholen und ihnen Unterkünfte und Arbeitsstellen zu vermitteln, um so zu vermeiden, dass sie von zwielichtigen Persönlichkeiten ausgebeutet werden. Im Laufe der Jahre kam dann auch die Hilfe für Männer sowie Familien und Kinder dazu. Was über die Jahre geblieben ist, ist das christliche Leitbild der Nächstenliebe, sowie die kirchliche Trägerschaft.
Zurück in der Bahnhofsmission führt mich mein nächster Weg in die dortige Küche, wo bereits zwei Kolleginnen den Tee und die geschmierten Brote für die Essensausgabe vorbereitet haben. Ein weiterer Kollege hat bereits ein Büro für die anstehende Notfallberatung vorbereitet und steht erwartungsvoll in der Tür. Pünktlich um 19:30 Uhr beginnt die Essensausgabe. Mit einem Lächeln begrüße ich den ersten Kunden und frage ihn, ob er lieber ein Margarinebrot oder ein Schmalzbrot hätte. Die Antwort lautet: „Je eins von beiden“. Während ich noch den warmen Tee in den Becher fülle, unterhalte ich mich kurz mit meinem Gegenüber. Neben der materiellen Hilfe mit Lebensmitteln ist auch der soziale Kontakt ein wichtiger Bestandteil im Rahmen meines Praktikums. Rückblickend traue ich mich fast zu sagen, dass dieser Austausch, insbesondere das Zuhören und Eingehen auf den Gegenüber, die Arbeit in der Bahnhofsmission so unschätzbar wichtig macht.
Nach einer Dreiviertelstunde werde ich an der Theke für die Essensausgabe abgelöst. Es heißt kurz durchschnaufen. Anschließend kümmere ich mich nun im Rahmen der Notfallberatung um Menschen, die mit ihren Anliegen nicht mehr bis zur nächsten Regelberatung warten können.
Der erste schildert mir, dass er heute seine Wohnung verloren hat und aufgrund seiner Mittellosigkeit sich kein Hotelzimmer leisten kann. Nach einem kurzen Gespräch vermittle ich ihn an eine Notschlafstelle weiter, wo er die heutige Nacht verbringen kann, und vermittle ihm weiterführende Hilfe, die über das Angebot der Bahnhofsmission hinausgeht.
Und so geht eine Beratung nach der anderen über die Bühne, bis es Zeit ist, die Türen für den regulären Publikumsverkehr zu schließen. Denn in den Nachtstunden fungiert die Bahnhofsmission als Notschlafstelle für Frauen; allerdings werden Menschen in Krisensituationen oder mit unaufschiebbaren Anliegen auch zu den Nachtzeiten unterstützt, in denen die Bahnhofsmission durch zwei Nachtdienstmitarbeiter vertreten wird.
Die erste Aufgabe, die ich als Nachtdienst erledigen darf, ist die Vorbereitung des Schlafraumes. Das heißt, Boden wischen, Tische zusammenstellen, Isomatten und Decken herrichten und anschließend den jeweiligen Übernachtungsfrauen ihren Schlafplatz zuweisen. Nachdem dies geschafft ist, gilt es, die Küche sauberzumachen und für den nächsten Tag vorzubereiten. Und nicht zu vergessen: die Notfallberatung. Immer wieder klingelt es an der Tür. Mal ist es nur die Bitte um ein Glas Wasser, ein anderes Mal ist es die Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Auf einmal klingelt auch das Telefon. Am anderen Ende eine Frau, die keinen Sinn mehr im Leben sieht und verzweifelt ein Gegenüber zum Reden sucht. Auch solche Notfälle gibt es in der Bahnhofsmission.
Um 7:00 Uhr werden wir von den Kolleginnen und Kollegen der Tagschicht abgelöst, die sowohl aus ehrenamtlichen Mitarbeitern als auch hauptamtlichen Sozialarbeitern bestehen, die sich nun um die anstehenden Beratungstermine kümmern werden.
Für mich heißt es jetzt erstmal, eine Mütze Schlaf nachzuholen und so lasse ich den Trubel der Bahnhofsmission hinter mir und mache mich auf den Heimweg. In der Bahnhofsmission geht das Leben aber munter weiter, schließlich ist hier nie wirklich Ruhe, denn Hilfe findet man hier 24 Stunden am Tag, 168 Stunden in der Woche, 720 Stunden im Monat, 8.760 Stunden im Jahr.